Meine Alltagsheldin
Als Headhunter hat man das Privileg, viele verschiedene Menschen kennenzulernen, die einen mal mehr und mal weniger beeindrucken. Nachdem ich seit mittlerweile 15 Jahren als Personalberaterin ausschließlich für die Life Science Industrie tätig bin, habe ich eine Vielzahl von Medizinern, Pharmazeuten und promovierten Naturwissenschaftlern kennenlernen dürfen, die oft über ein ganz bestimmtes Expertenwissen verfügen und absolute Profis auf ihrem Gebiet sind.
Mein Job ermöglicht es mir, mich mit außerordentlich interessanten Persönlichkeiten auszutauschen und von Entwicklungen zu erfahren, von denen Außenstehende nie hören werden. In Zeiten von Corona, die von allgemeiner Unsicherheit und dem Wunsch, zur Normalität zurück zu kehren, geprägt sind, finde ich es besonders faszinierend, an den Einschätzungen eben dieser Experten teilhaben zu dürfen oder einfach nur die Frage zu stellen: Wo werden wir heute in einem Jahr stehen? Das alles macht meinen Beruf spannend und abwechslungsreich.
Und doch hat mich kürzlich eine Nicht-Akademikerin ganz besonders beeindruckt: Sie hat über einen bestimmten Zeitraum hinweg im Nebenjob als Sitzwache im Krankenhaus gearbeitet und über Kinder, Jugendliche und Erwachsene in psychischem Ausnahmezustand gewacht. Diese Patienten sind meist an das Bett fixiert und benötigen eine rund um die Uhr Bewachung. Die Kandidatin berührte mich nicht nur mit ihrer einfühlsamen, verständnisvollen und feinsinnigen Art, sondern vor allem auch mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie dieser - aus meiner Sicht, anspruchsvollen und kräftezehrenden Arbeit - nachging. Für mich ist sie der Inbegriff eines empathischen Menschen, denn diese können Mimik lesen und verstehen. Sie erkennen, wenn eine Person wütend oder glücklich ist und verstehen auch unterschwellige emotionale Signale. Das Deuten von Mimik ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, eine echte Verbindung zum Gegenüber aufzubauen, was für diese Tätigkeit nicht unerheblich ist.
Idealerweise werde ich nie in die Situation kommen, dass ich einer Sitzwache bedarf, aber wenn doch, dann wünsche ich mir genau so jemanden wie diese Kandidatin, die ich unlängst kennenlernen durfte und deren Worte in mir nachhallen, denn:
„Reich ist, wer viel hat, reicher ist, wer wenig braucht, am reichsten ist, wer viel gibt.“
(Gerhard Tersteegen, deutscher Prediger und Schriftsteller, 1697 – 1769)